Die Methodik der Heidelberger Konfliktforschung

Die Heidelberger Konfliktforschung umfasst die Arbeit zweier am Institut für Politische Wissenschaft der Universität Heidelberg angesiedelten Forschungseinrichtungen: des 1991 gegründeten Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung e.V. (HIIK) und der seit 2005 bestehenden Forschungsgruppe des Conflict Information System (CONIS Group). Im Folgenden wird die gemeinsame konfliktwissenschaftliche Methode von CONIS und HIIK vorgestellt.

Die quantitative Konfliktforschung als Grundlagenforschung verfolgt als zentrales Ziel, das Konfliktgeschehen empirisch möglichst genau zu erfassen und der Konfliktursachenforschung in Form von Datensätzen für weitergehende Analysen zur Verfügung zu stellen. Vergleichende Metaanalysen haben jedoch gezeigt, dass die vorhandenen Konfliktdatensätze nur einen geringen gemeinsamen Deckungsgrad aufweisen. Neben Faktoren wie Umfang und Zuverlässigkeit des Datenmaterials und der Datenerfassung gelten als weiterer wesentlicher Faktor zur Erklärung der beobachteten Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Konfliktdatenbanken Unterschiede in derzur Datenerhebung verwendeten Methodik, insbesondere in der Konzeption und Opera­tionalisierung des Konfliktbegriffs.

In der quantitativen Konfliktforschung lassen sich im Wesentlichen drei Richtungen in der Definition und Opera­tionalisierung des Konflikt- bzw. Kriegsbegriffs unterscheiden:

(1) Offizielle Kriegserklärungen. Dieser Ansatz wurde in den ersten quantitativen Untersuchungen zur Erfassung zwischenstaatlicher Konflikteverwendet.[1] Inzwischen gilt dieses Verfahren als veraltet, da gegenwärtige Kriege, schon allein aus völkerrechtlichen Gründen, in der Regel nicht mehr „offiziell“ erklärt werden.

(2) Anzahl der Kriegsopfer. Diese Methode der quantitativen Operationalisierung findet sich bei den beiden am häufigsten verwendeten Konfliktdatenbanken, dem Correlates of War Project (COW)[2] und dem Uppsala Conflict Data Program (UCDP).[3] Beide Projekte benennen inzwischen die Schwelle von 1.000 durch den jeweiligen Konflikt hervorgeru­fenen Todesopfern pro Jahr sowie die Beteiligung mindestens eines Staates als wichtigste Kriterien für das Vorhandensein eines Krieges. Um die Vielzahl kleinerer gewaltsamer Konflikte zu erfassen, wurde zumindest im UCDP die Kategorie der „Minor Armed Conflicts“ geschaffen. Hier gilt ein Schwellenwert von 25 Todesopfern pro Jahr.

(3) Beschaffenheit des Konfliktaustrags. Der ungarische Friedens- und Konfliktforscher Istvan Kende präsentierte einen weiteren Ansatz, in dem er die Qualität des Konfliktaustrags zum Ausgangspunkt einer Konzeption von Kriegen machte.[4] Diesem Ansatz der qualitativen Operationalisierung schlossen sich die in Deutschland beheimateten und unabhängig voneinander Ende der 1980er Jahre gegründeten Konfliktdatenbank­projekte der Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachen Forschung (AKUF) in Hamburg und des Konflikt-Simulations-Modells (KOSIMO) in Heidelberg an.

Sowohl das vom HIIK herausgegebene Konfliktbarometer als auch die CONIS-Datenbank stehen methodisch eindeutig in der Tradition der qualitativen Konfliktdefinition und -operationalisierung. Im Unterschied jedoch zum AKUF-Ansatz und zur KOSIMO-Datenbank, aus der das HIIK hervorgegangen ist und die zugleich das Vorgängerprojekt von CONIS ist, erfasst die Heidelberger Konfliktforschung im Allgemeinen und CONIS im Besonderen auch die Maßnahmen und Ereignisse, aufgrund derer die Erfassung eines Konflikts und die Bestimmung seiner Intensität erfolgen. Erst damit werden Konfliktbestimmungen intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar.

Bis zum Jahr 2010 wurden hierfür maßgeblich die erfassten Konfliktmaßnahmen und in Einzelfällen weitere Indikatoren wie Todesopfer und Flüchtlingszahlen herangezogen. Mit der überarbeiteten Heidelberger Methodik ab dem Jahr 2011 wird das konfliktwissenschaftliche Verfahren weiter ausdifferenziert und systematisiert. So erfolgt zum einen die Bestimmung der Intensität eines Konflikts nun nicht mehr nur wie bisher auf der Ebene der Nationalstaaten und Kalenderjahre, sondern auch für die einzelnen politischen Einheiten auf subnationaler Ebene und auf der Grundlage der Kalendermonate. Zum anderen erfolgt die Bestimmung der Konfliktintensität nun durch eine Analyse mittels klar konzipierter Indikatoren zur Bewertung der Mittel und Folgen des Konfliktaustrags. Diese Analyse fußt jedoch weiterhin auf dem Handeln und Kommunizieren der Konfliktakteure. Durch die konzeptionelle Ausdifferenzierung und Standardisierung der Datenerfassung wird eine größere Genauigkeit, Reliabilität und Nachvollziehbarkeit der Informationen zu politischen Konflikten erreicht.

Im Folgenden wird zunächst das Basiskonzept des politischen Konflikts vorgestellt und sodann die Definition und Operationalisierung der Konfliktintensitäten ausführlich dargelegt.

 

 

1. Das Basiskonzept des politischen Konflikts

Ein politischer Konflikt ist eine Positionsdifferenz hinsichtlich gesamtgesellschaftlich relevanter Güter – den Konfliktgegenständen – zwischen mindestens zwei als durchsetzungsfähig wahrgenommenen direkt beteiligten Akteuren, die mittels beobachtbarer und aufeinander bezogener Konfliktmaßnahmen ausgetragen wird, welche außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen und eine staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen.

Nach der Heidelberger Konfliktmethodik besteht das Wesen des politischen Konflikts in einem Widerspruch, der mit dem Konzept der Positionsdifferenz erfasst wird: Eine Positionsdifferenz ist eine wahrgenommene Inkompatibilität von Denk- und Vorstellungsinhalten.Eine Positionsdifferenz setzt das Vorhandensein der folgenden Elemente voraus:

(1) Es muss mindestens zwei Subjekte geben, die über Denk- und Vorstellungsvermögen verfügen und kommunizieren können. Ein solches Subjekt heißt Akteur.

(2) Damit die Akteure eine Inkompatibilität ihrer Denk- und Vorstellungsinhalte wahrnehmen können, muss es reziproke und aufeinander bezogene Handlungen und Kommunikationen zwischen diesen Akteuren geben. Diese Handlungen und Kommunikationen heißen Maßnahmen.

(3) Eine Kommunikation bezieht sich stets auf ein bestimmtes Thema, eine Handlung bezieht sich stets auf ein bestimmtes Objekt. Ein solcher Inhalt einer Maßnahme heißt Gegenstand.

Zur spezifischen Bestimmung des Begriffs des politischen Konflikts werden diese drei Elemente weitergehend definiert. Sie bilden die notwendigen Bedingungen für das Vorhandensein eines politischen Konflikts.

 

1.1 Definition der Konfliktakteure

Als Konfliktakteure gelten individuelle oder kollektive Akteure, die (a) als unitarisch konzipiert werden und sich durch ihre interne Kohäsion und gemeinsame Zielsetzung von anderen Akteuren abgrenzen, und die (b) als durchsetzungsfähig wahrgenommenen werden.

Beansprucht oder erstrebt ein Konfliktakteur den Konfliktgegenstand für sich selbst, ist dieser ein direkt beteiligter oder direkter Akteur. Ein Konfliktakteur heißt indirekt beteiligter oder indirekter Akteur, wenn er den Konfliktgegenstand nicht für sich selbst beansprucht oder erstrebt, aber über ihn kommuniziert oder auf ihn bezogen handelt. Ein indirekter Akteur, der einen direkten Akteur darin unterstützt, den Konfliktgegenstand zu beanspruchen oder zu erstreben, heißt Unterstützer. Ein indirekter Akteur, der den Konflikt beenden will und dabei keinen der direkten Akteure in seinem Streben nach dem Konfliktgegenstand unterstützt, heißt Interveneur.

Ein Konfliktakteur gilt als durchsetzungsfähig, wenn er von einem direkten Konfliktakteur als solcher wahrgenommen wird und daraus bei diesem eine Verhaltensänderung bezüglich des Konfliktgegenstands resultiert.

Direkte und indirekte Akteure können sowohl Staaten als auch internationale Organisationen und nicht-staatliche Akteure (NSA) sein.

Die Heidelberger Konfliktforschung erfasst sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure (private individuelle und kollektive Akteure sowie supra- und internationale Organisationen).

 

1.2 Definition der Konfliktmaßnahmen

Als Konfliktmaßnahmen werden alle Handlungen und Kommunikationen bezeichnet, die ein Akteur als direkter oder indirekter Konfliktakteur in einem spezifischen politischen Konflikt durchführt. Es werden zwei Arten von Konfliktmaßnahmen unterschieden: konstitutive Konfliktmaßnahmen, durch deren Anwesenheit die Existenz eines Konflikts auf einer bestimmten Intensitätsstufe etabliert oder aufrechterhalten wird, und korollare Konfliktmaßnahmen, die in einem Konflikt neben den konstitutiven Maßnahmen auftreten.

Eine konstitutive Maßnahme liegt vor, wenn die betreffende Handlung oder Kommunikation (a) außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegt und (b) – gegebenenfalls im Zusammenwirken mit anderen Konfliktmaßnahmen – eine staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedroht oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellt. Sowohl gewaltsame als auch gewaltfreie Maßnahmen können konstitutive Konfliktmaßnahmen sein.

Außerhalb etablierter Regelungsverfahren liegt eine Maßnahme dann, wenn entweder kein etabliertes Verfahren zur Regelung oder Beseitigung der bestehenden Positionsdifferenz zwischen den Konfliktakteuren existiert oder wenn die Maßnahme selbst ein Verfahren zur Regelung oder Beseitigung von Positionsdifferenzen darstellt, über dessen Existenz oder Ausgestaltung zwischen den Konfliktakteuren Uneinigkeit besteht.Ein Regelungsverfahren kann nur dann als etabliert gelten, wenn es gewaltvermeidend ist, das heißt wenn zu seiner Durchführung keine physische Gewalt angewandt oder angedroht wird.

Staatliche Kernfunktionen sind die Aufrechterhaltung (a) der physischen Sicherheit einer Bevölkerung, (b) der Integrität eines Territoriums und (c) einer politischen, sozioökonomischen bzw. kulturellen Ordnung.Eine staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung ist bedroht, wenn das Fortdauern der Maßnahme(n) die Erfüllung der Funktionen bzw. das Fortbestehen der Ordnung in der Wahrnehmung eines Konfliktakteurs unmöglich oder unwahrscheinlich macht.

Korollare Konfliktmaßnahmen sind solche Handlungen oder Kommunikationen, die zwar von einem Konfliktakteur im Rahmen eines etablierten politischen Konflikts durchgeführt werden, aber entweder (a) innerhalb etablierter Regelungsverfahren liegen oder (b) die staatlichen Kernfunktionen bzw. die völkerrechtliche Ordnung nicht bedrohen oder beides. Hierzu zählen primär gewaltfreie Maßnahmen in auch gewaltsam ausgetragenen Konflikten.

Von den Konfliktmaßnahmen werden die Konfliktereignisse unterschieden. Dies sind Handlungen, Kommunikationen oder auch Ereignisse in der natürlichen Umwelt, die zwar nicht von Konfliktakteuren ausgehen oder verursacht wurden, aber einen Einfluss auf den Konfliktaustrag haben.

 

1.3 Definition der Konfliktgegenstände

Als Konfliktgegenstände werden jene materiellen oder immateriellen Güter verstanden, die von den direkten Konfliktakteuren durch konstitutive Konfliktmaßnahmen angestrebt werden. Da konstitutive Konfliktmaßnahmen eine staatliche Kernfunktion oder die völkerrechtliche Ordnung bedrohen oder eine solche Bedrohung in Aussicht stellen, erlangen die Konfliktgegenstände gesamtgesellschaftliche Relevanz, weisen also einen Bezug zum gesellschaftlichen Zusammenleben innerhalb eines Staates oder zur Koexistenz von Staaten im internationalen System auf.

Die Heidelberger Konfliktmethodik sieht im Einzelnen die folgenden Konfliktgegenstände vor, je nach dem, welches Gut von den Konfliktakteuren angestrebt wird:

  • Ideologie/System: Veränderung der ideologischen, religiösen, sozioökonomischen oder rechtlichen Ausrichtung des politischen Systems oder Änderung des Regimetyps.
  • Nationale Macht:Herrschaftsgewalt in einem Staat.
  • Autonomie: Erlangung oder Ausweitung der politischen Selbstbestimmung einer Bevölkerung in einem Staat oder eines abhängigen Gebiets ohne Unabhängigkeitsbestrebungen.
  • Sezession: Trennung eines Teils eines Staatsgebiets mit dem Ziel der Errichtung eines neuen Staates oder des Anschlusses an einen bestehenden Staat.
  • Dekolonisierung: Unabhängigkeit eines abhängigen Gebiets.
  • Subnationale Vorherrschaft: De-facto-Kontrolle einer Regierung, einer nicht-staatlichen Organisation oder einer Bevölkerung über ein Gebiet oder eine Bevölkerung.
  • Ressourcen: Besitz natürlicher Ressourcen oder Rohstoffe bzw. der hieraus erzielte Profit.
  • Territorium: Veränderung des Verlaufs einer zwischenstaatlichen Grenze.
  • Internationale Macht: Veränderung der Machtkonstellation im internationalen System oder in einem seiner Regionalsysteme.
  • Anderes: Residualkategorie.

Konfliktakteure können mehrere Güter gleichzeitig, und verschiedene Konfliktakteure zudem unterschiedliche Güter, anstreben.

 

 

2. Definition und Operationalisierung der Konfliktintensitäten

2.1 Definition der Intensitätsstufen

Die Konfliktintensität ist eine Eigenschaft einer Gesamtheit von Konfliktmaßnahmen in einem geographischen und zeitlichen Raum. Die primäre zeitliche Analyseeinheit ist der Kalendermonat; die primäre geographische Analyseeinheit ist die „Region“, das heißt die top-level sub-national political division eines Staates.

Es werden insgesamt fünf Intensitätsstufen unterschieden: Disput, gewaltlose Krise, gewaltsame Krise, begrenzter Krieg und Krieg. Die gewaltsame Krise, der begrenzte Krieg und der Krieg bilden zusammen die Kategorie der Gewaltkonflikte, im Unterschied zu den gewaltfreien Konflikten (Disput und gewaltlose Krise), die auch als „Konflikte niedriger Intensität“ bezeichnet werden. Entsprechend sind gewaltsame Krisen „Konflikte mittlerer Intensität“ und Kriege und begrenzte Kriege beide „Konflikte hoher Intensität“ (vgl. Schema 1).

Schema 1: Stufen der Konfliktintensität

Ein politischer Konflikt wird als Disput eingestuft, wenn er alle Merkmale des Basiskonzepts erfüllt.

Ein politischer Konflikt wird als gewaltlose Krise eingestuft, wenn in diesem physische Gewalt gegen Personen oder Sachen durch mindestens einen der Akteure explizit oder implizit angedroht, oder gegen Sachen angewandt wird, ohne dass dabei die physische Verletzung von Personen billigend in Kauf genommen wird.Als Androhung von Gewalt gilt dabei die nonverbale oder verbale Inaussichtstellung von Gewaltmaßnahmen, die auf den Konfliktgegenstand bezogen ist. Eine billigende Inkaufnahme liegt dann vor, wenn bei der Anwendung von Gewalt gegen eine Sache die physische Verletzung von Personen für möglich gehalten wird, dies dem Gewaltanwender jedoch gleichgültig ist.

Ein politischer Konflikt wird als gewaltsame Krise eingestuft, wenn in diesem physische Gewalt gegen Personen – oder gegen Sachen, falls damit die physische Verletzung von Personen billigend in Kauf genommen wird – durch mindestens einen der Akteure sporadisch angewandt wird. Die eingesetzten Mittel und Folgen sind dabei in ihrem Zusammenspiel gering.

Ein politischer Konflikt wird als begrenzter Krieg eingestuft, wenn in diesem physische Gewalt gegen Personen und gegebenenfalls gegen Sachen durch mindestens einen der Akteure auf ausgeprägte Weise angewandt wird. Die eingesetzten Mittel und Folgen sind dabei in ihrem Zusammenspiel erheblich.

Ein politischer Konflikt wird als Krieg eingestuft, wenn in diesem physische Gewalt gegen Personen und gegebenenfalls gegen Sachen durch mindestens einen der Akteure in massivem Ausmaß angewandt wird. Die eingesetzten Mittel und Folgen müssen dabei in ihrem Zusammenspiel als umfassend bezeichnet werden.

 

2.2 Operationalisierung der Gewaltkonflikte

Das erste Kriterium für die Intensitätsvergabe ist das der Gewaltsamkeit oder Gewaltfreiheit der Konfliktmaßnahmen, wobei Gewalt eine Handlung meint, die zu absichtlicher physischer Schädigung führt. Unterschieden wird hierbei grundsätzlich zwischen (a) völliger Gewaltfreiheit des Konfliktaustrags, (b) Androhung von Gewalt gegen Personen und (c) Einsatz von Gewalt gegen Personen.

  • Wird keine Gewalt eingesetzt, liegt die Intensitätsstufe 1 vor.
  • Wird mit dem Einsatz von Gewalt gedroht oder wird Gewalt gegen Sachen eingesetzt, ohne billigend in Kauf zu nehmen, dass dabei Personen physisch geschädigt werden können, liegt die Intensitätsstufe 2 vor.
  • Wird Gewalt gegen Personen eingesetzt, oder wird Gewalt gegen Sachen eingesetzt und dabei billigend in Kauf genommen, dass dabei Personen physisch geschädigt werden können, liegt ein Gewaltkonflikt der Intensitätsstufe 3, 4 oder 5 vor.

Ist Gewalt gegen Personen zu beobachten, werden zur Ausdifferenzierung des Gewaltkonflikts als weitere Kriterien die zur Durchführung der gewaltsamen Konfliktmaßnahme eingesetzten Mittel und die Folgen der gewaltsamen Konfliktmaßnahme herangezogen. Die Dimension der Mittel umfasst die Indikatoren Waffeneinsatz und Personaleinsatz, die Dimension der Folgen die Indikatoren Todesopfer, Zerstörung und Flüchtlinge.

2.2.1 Mittel des Gewalteinsatzes – Waffen und Personal

Bei den Mitteln des Gewalteinsatzes wird das eingesetzte Gerät (Waffen) und der beteiligte Personenkreis (Personal) aller beteiligten Konfliktakteure berücksichtigt.

2.2.1.1. Indikator Waffeneinsatz

Hinsichtlich der Waffe(n), die im Rahmen einer Konfliktmaßnahme eingesetzt werden, wird zunächst zwischen leichten und schweren Waffen, gemäß folgender Kriterien unterschieden:

  Leichte Waffen Schwere Waffen
Hieb- und Stichwaffen Klingenwaffen (z.B. Schwert, Messer, Axt, Beil, Machete, etc.)

Stangenwaffen (z.B. Lanze, Speer, etc.)

Unkonventionelle (z.B. Keule, Knüppel, Kantholz, Baseball-Schläger, etc.)

Bogen- und Wurfwaffen Pfeil und Bogen, Armbrust, Steinschleuder, Speer, Wurfmesser, Wurfaxt, Bola, Bumerang, Wurfsterne,

Unkonventionelle (z.B. Steine, etc.)

Handfeuerwaffen Pistole, Revolver, Gewehr, Flinte, Karabiner,  Schrotflinte, Maschinenpistole, Sturmgewehr, leichtes und mittleres Maschinengewehr, etc. schultergestützte Panzerabwehrwaffen und Flugabwehrraketen, Granatwerfer mit panzerbrechender Munition
Explosionswaffen Handgranate, Anti-Personenmine, Richtmine, Sprengladung, Molotow-Cocktail, etc. große konventionelle Bomben, Panzerabwehrminen, konventionelle Raketen, Torpedos, Wasserbomben, Wassermine, Marschflugkörper, etc.
Brandwaffen Flammenwerfer, Handflammpatronen, Molotow-Cocktail, etc. Brandbomben (Napalm, Phosphor), Karkasse, etc.
Schwere Feuerwaffen Kampfpanzer, Schützenpanzer,  Kampfhubschrauber, Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, U-Boote, etc.

Schwere Mörser, Maschinenkanonen, Panzerabwehr- und Flugabwehrkanone, schwerer Raketenwerfer, Schiffsgeschütze, Artilleriegeschütze, etc.

ABC-Waffen Atomare, biologische und chemische Kampfstoffe (Massenvernichtungswaffen) sowie deren Trägersysteme

Tabelle 1: Beispiele für leichte und schwere Waffen

Bei schweren Waffen wird weiterhin danach differenziert, ob sie leicht oder schwer eingesetzt werden:

  • Ein leichter Einsatz einer schweren Waffe liegt vor, wenn sie begrenzt genutzt wird (isolierter und/oder relativ beschränkter Einsatz).
  • Ein schwerer Einsatz einer schweren Waffe liegt vor, wenn sie umfassend genutzt wird (im Verbund erfolgender und/oder massiver Einsatz).

Die Bewertung des Waffeneinsatzes wird maßnahmenweise vorgenommen. Ausschlaggebend für den Wert bezüglich eines Monats und einer Region ist der höchste Maßnahmenwert innerhalb des betreffenden Monats und der betreffenden Region.

Schema 2: Punktevergabe Waffeneinsatz

2.2.1.2. Indikator Personaleinsatz

Hinsichtlich des Personals wird der numerische Umfang des beteiligten bzw. eingesetzten Personenkreises bewertet. Es handelt sich dabei im Regelfall um Soldaten oder Polizisten im Falle staatlicher Akteure und um bewaffnete Anhänger oder Söldner im Falle nicht-staatlicher Akteure.Für eine Bewertung zu betrachten und ausschlaggebend sind all jene Personen, die in ihrer Handlung als Kollektiv einen Konfliktakteur innerhalb einer gewaltsamen Kommunikation repräsentieren. Demgemäß werden auch Demonstranten, die selbst nicht gewaltsam handeln, jedoch als Adressaten an einer gewaltsamen Kommunikation beteiligt sind, als relevantes „eingesetztes Personal“ betrachtet.

Beträgt das eingesetzte Personal bis zu 50 Personen, wird der Personalumfang als niedrig bewertet.Beträgt das eingesetzte Personal bis zu 400 Personen, wird der Personalumfang als mittel bewertet. Beträgt das eingesetzte Personal mehr als 400 Personen, wird der Personalumfang als hoch bewertet.

Die Bewertung des Personaleinsatzes wird maßnahmenweise vorgenommen. Ausschlaggebend für den Wert bezüglich eines Monats und einer Region ist der höchste Maßnahmenwert innerhalb des betreffenden Monats und der betreffenden Region.

Schema 3: Punktevergabe Personaleinsatz

2.2.2 Folgen des Gewalteinsatzes – Todesopfer, Flüchtlinge und Zerstörung

Bei den Folgen des Gewalteinsatzes wird einerseits die Zahl der Todesopfer berücksichtigt, die im Zuge einer gewaltsamen Konfliktmaßnahme festzustellen sind, und andererseits die allgemeine Bedrohung der Existenzgrundlage derjenigen Bevölkerung, die von der jeweiligen gewaltsamen Konfliktmaßnahme betroffen ist, erfasst durch die Zahl der Flüchtlinge und das Ausmaß der Zerstörung.

2.2.2.1 Indikator Todesopfer

Beträgt die Zahl der Todesopfer in einem Monat und in einer Region zwischen 0 und 20, wird dies als niedrig bewertet. Beträgt die Zahl der Todesopfer in einem Monat und in einer Region zwischen 20 und 60, wird dies als mittel bewertet. Beträgt die Zahl der Todesopfer in einem Monat und in einer Region mehr als 60, wird dies als hoch bewertet.

Die Bewertung des Indikators Todesopfer wird anhand der Summe der Personen, die in unmittelbarer Folge der Konfliktmaßnahmen innerhalb eines Monats in einer Region gestorben sind, vorgenommen.

Schema 4: Punktevergabe Todesopfer

2.2.2.2 Indikator Flüchtlinge

Für die Intensitätsbestimmung erfasst werden sowohl Personen, die über Staatengrenzen hinweg fliehen (Refugees), als auch Personen, die innerhalb eines Staates vertrieben werden (Internally Displaced Persons). Es werden nur solche Flüchtlinge berücksichtigt, die über die aktive Handlung der Flucht einer aktuellen Konfliktmaßnahme zuzuschreiben sind. Flüchtlinge, die sich also bereits seit längerer Zeit in diesem Status befinden, werden nicht mit einbezogen.

Beträgt die Zahl der Flüchtlinge in einem Monat zwischen 0 und 1.000, wird dies als niedrig bewertet. Beträgt die Zahl der Flüchtlinge in einem Monat zwischen 1.000 und 20.000, wird dies als mittel bewertet. Beträgt die Zahl der Flüchtlinge in einem Monat mehr als 20.000, wird dies als hoch bewertet.

Die Bewertung der Zahl der Flüchtlinge wird anhand der Summe der Personen, die in Folge der Konfliktmaßnahmen in einem Monat innerhalb oder aus einer Region fliehen, für die betreffende Region, in oder aus der die Menschen fliehen, vorgenommen.

Schema 5: Punktevergabe Flüchtlinge

2.2.2.3 Indikator Zerstörung

Hinsichtlich der Zerstörung werden vier Dimensionen unterschieden: (a) Infrastruktur (zivil und militärisch), (b) Wohnraum, (c) Wirtschaft und Subsistenz und (d) identitätsstiftende Güter.

Entscheidend ist, ob die beobachtbare Zerstörung in ihrem Ausmaß massiv ist. Die Zerstörung in einer der genannten Dimensionen ist massiv, wenn das zerstörte Objekt wesentlich für die Funktion der jeweiligen Dimension war. Wurde nichts zerstört oder ist in keiner der vier Dimensionen die Zerstörung massiv, gilt sie als niedrig. Liegt in einer oder zweiDimensionen massive Zerstörung vor, wird sie als mittel bewertet. Die Zerstörung ist hoch, wenn in drei oder vier Dimensionen eine massive Zerstörung vorliegt.

Die Bewertung des Ausmaßes der Zerstörung wird anhand der Summe der Zerstörung, die in Folge der Konfliktmaßnahmen innerhalb eines Monats in einer Region aufgetreten ist, vorgenommen.

Schema 6: Punktevergabe Zerstörung

2.2.3 Die Bewertung der Indikatoren

Die Bewertung der Indikatoren Waffeneinsatz und Zerstörung erfolgt qualitativ, das heißt über eine Einschätzung der Waffenart, der Art des Einsatzes bzw. der Zerstörung anhand des jeweiligen Objekts und unter Berücksichtigung des Kontexts.

Die Bewertung der Indikatoren Personaleinsatz, Todesopfer und Flüchtlinge erfolgt grundsätzlich quantitativ, das heißt unter Berücksichtigung der einzelnen angegebenen Schwellenwerte. Diese Vorgehensweise ist jedoch nur anwendbar, wenn jeweils zuverlässiges Datenmaterial zur Verfügung steht. (Insofern handelt es sich bei den aufgeführten Schwellenwerten eher um „Richtwerte“.) Ist dies nicht der Fall, wird hilfsweise eine qualitative Bestimmung auf der Grundlage der Interpretation von Texten, insbesondere von Nachrichten, vorgenommen. Die Textdeutung wird systematisiert durch die Beachtung von Signalwörtern, die den Ausprägungen der Indikatoren zugeordnet sind. Tabelle 8 ordnet beispielhaft mögliche Signalwörter den Indikatoren zur Intensitätsbewertung zu.

Personal fire/maneuver team, squad/crew, several, patrol, platoon company, bataillon, many, large number regiment/brigade, division, corps, bataillon, large number
niedrig mittel hoch
Todesopfer several, dozen many, dozens of, scores of, numerous, huge/high/large numbers hundreds of, thousands of, several thousands of, huge/high/large numbers
niedrig mittel hoch
Flüchtlinge small number, several, dozen, dozens of, numerous, hundreds of thousands of, several thousands of, huge/high/large numbers ten thousands, huge/high/large numbers
niedrig mittel hoch

Tabelle 2: Signalwörter zur qualitativen Bestimmung

Ist auch eine Bestimmung aufgrund von Textdeutung nicht zuverlässig möglich, wird hilfsweise die informierte Deutung durch die jeweiligen Konfliktbearbeiter zugelassen, basierend auf seiner Kenntnis des Konflikts und Erfahrung der Konfliktbewertung. Dies ergibt zusammengenommen ein „Ampelsystem der Zuverlässigkeit“ der Intensitätsbestimmung, wie in Tabelle 9 dargestellt.

Quantitative Bestimmung

Zuverlässiges Datenmaterial

Qualitative Bestimmung

Textinterpretation, Signalwörter

Informierte Deutung

Konfliktkenntnis

Tabelle 3: „Ampelsystem der Zuverlässigkeit“

 

2.3 Bestimmung der Konfliktintensitäten

Wie unter 2.1 erwähnt, ist die primäre Analyseeinheit der Konfliktintensität in zeitlicher Hinsicht der Kalendermonat und in räumlicher Hinsicht die Region, d.h. die politische Einheit der ersten Gliederungsebene. Auf der Ebene Konfliktregion/Monat werden nur die gewaltsamen Konfliktintensitäten bestimmt, d.h. die Intensitätsstufen 3, 4 und 5. Wird ein politischer Konflikt in einem Kalendermonat in einer bestimmten Region ohne Gewaltanwendung ausgetragen, wird für ihn auf der Ebene Konfliktregion/Monat keine Intensität bestimmt.

Neben den primären gibt es auch sekundäre Analyseeinheiten auf einer höheren Aggregationsebene. Die sekundäre Analyseeinheit in zeitlicher Hinsicht ist das Kalenderjahr, in räumlicher Hinsicht das Konfliktgebiet. Auf der Ebene Konfliktgebiet/Jahr werden nicht nur die gewaltsamen Konfliktintensitäten bestimmt, sondern auch die gewaltlosen, d.h. auch die Intensitätsstufen 1 und 2. Das Konfliktgebiet besteht aus allen Regionen, in denen ein politischer Konflikt in dem betreffenden Jahr gewaltsam ausgetragen wurde. Wurde in dem betreffenden Konflikt in keinerRegionGewalt angewandt, gilt das gesamte Land, in dem der Konflikt stattfindet, als Konfliktgebiet.

Tabelle 4 fasst die Verortung der Intensitäten auf den Analyseeinheiten zusammen.

Geographische Dimension

Subnationale Konfliktregion

Aggregiertes Konfliktgebiet

Zeitliche Dimension

Kalendermonat

Stufen 3, 4, 5

Kalenderjahr

Stufen 1, 2; 3, 4 und 5

Tabelle 4: Primäre und sekundäre Analyseeinheiten und zu bestimmende Konfliktintensitäten

Auf der Ebene Konfliktregion/Monat werden die unter 2.2 ausgeführten und in der Analyse einzeln bewerteten Indikatoren wie in Abbildung 2 schematisch dargestellt zu einer Regionalmonatsintensität zusammengeführt. Tabelle 5 gibt eine Übersicht zur Berechnung dieser Zusammenführung aus der Punktevergabe bezüglich der einzelnen Indikatoren.

Schema 7: Zusammenführung der Einzelindikatoren zur Intensität eines Gewaltkonflikts

Mittel des Gewalteinsatzes Waffen
0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
Personal 0 Punkte 0 Punkte 0 Punkte 1 Punkt
1 Punkt 0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
2 Punkte 1 Punkt 2 Punkte 2 Punkte
Existenzbedrohung Zerstörung
0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
Flüchtlinge 0 Punkte 0 Punkte 0 Punkte 1 Punkt
1 Punkt 0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
2 Punkte 1 Punkt 2 Punkte 2 Punkte
Folgen des Gewalteinsatzes Todesopfer
0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
Existenz-bedrohung 0 Punkte 0 Punkte 0 Punkte 1 Punkt
1 Punkt 0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
2 Punkte 1 Punkt 2 Punkte 2 Punkte
Regionalmonatsintensität Mittel
0 Punkte 1 Punkt 2 Punkte
Folgen 0 Punkte Stufe 3 Stufe 3 Stufe 4
1 Punkt Stufe 3 Stufe 4 Stufe 5
2 Punkte Stufe 4 Stufe 5 Stufe 5

Tabelle 5: Berechnung der Zusammenführung der Einzelindikatoren zur Intensität eines Gewaltkonflikts

 

Auf der Ebene Konfliktgebiet/Jahr ist das Vorgehen wie folgt:

  • Wenn Gewalt in mindestens einem Monat in mindestens einer Region aufgetreten ist, wird zur Bestimmung der Gebietsjahresintensität die in dem betreffenden Jahr und dem jeweiligen Konfliktgebiet höchste Regionalmonatsintensität verwendet.

Diese Intensität muss unter Betrachtung der zentralen Indikatoren Todesopfer und Flüchtlinge hoch- bzw. heruntergestuft werden:

  • Hochstufung von 3 auf 4, wenn in dem betrachteten Konflikt im ganzen Jahr im gesamten Konfliktgebiet mehr als 360 Todesopfer (18 mal 20) oder mehr als 18.000 Flüchtlinge (18 mal 1.000) aufgetreten sind.
  • Hochstufung von 4 auf 5, wenn in dem betrachteten Konflikt im ganzen Jahr im gesamten Konfliktgebiet mehr als 1.080 Todesopfer (18 mal 60) oder mehr als 360.000 Flüchtlinge (18 mal 20.000) aufgetreten sind.
  • Herabstufung von 4 auf 3, wenn in dem betrachteten Konflikt im ganzen Jahr im gesamten Konfliktgebiet weniger als 120 Todesopfer (6 mal 20) und weniger als 6.000 Flüchtlinge (6 mal 1.000) aufgetreten sind.
  • Herabstufung von 5 auf 4, wenn in dem betrachteten Konflikt im ganzen Jahr im gesamten Konfliktgebiet weniger als 360 Todesopfer (6 mal 60) und weniger als 120.000 Flüchtlinge (6 mal 20.000) aufgetreten sind.

Wenn in dem betrachteten Konflikt Gewalt hingegen nicht in wenigstens einem Monat in zumindest einer Region aufgetreten ist, wird (wie unter 2.1 dargestellt) weiter bestimmt, ob es sich um die Intensitätsstufe 1 oder 2 handelt.

 

Quellen

[1] Wright, Quincy (1942): A Study of War. Chicago: The University of Chicago Press; Richardson, Lewis Fry (1960): Statistics of Deadly Quarrels. Pittsburgh: Boxwood Press.

[2] Singer, David J.; Small, Melvin (1972): The Wages of War 1816-1965. A Statistical Handbook. New York, London, Sydney, Toronto: John Wiley & Sons.

[3] Gledditsch, Nils Petter; Wallensteen, Peter; Eriksson, Mikael; Sollenberg, Margareta und Strand, Havard (2002): Armed Conflicts 1946 – 2001: A New Dataset, in: Journal of Peace Research 39 (5): 615-637.

[4] Kende, Istvan (1971): Twenty-Five Years of Local Wars, in: Journal of Peace Research 8 (1): 5-22;

ebd. (1972): Local Wars in Asia, Africa and Latin America 1945-1969. Budapest: Center for Afro-Asian Research; ebd. (1982): Kriege nach 1945. Eine empirische Untersuchung. Frankfurt a. Main: Haag und Herchen.